Der letzte Tag in Sachsen-Anhalt. Noch einmal nach Wittenberg, weil es nicht weit ist, weil wir noch nicht alles gesehen haben und weil wir die Hoffnung haben, dass wir doch noch einen kulinarisch lohnenswerten Ort finden, der uns bisher nicht wirklich vergönnt gewesen ist. Emmi möchte einen anderen Weg fahren, also fahren wir einmal von Möllensdorf gen Norden über Straach sozusagen von oben rein nach Wittenberg, froher macht es sie nicht, denn auch diese Dörfer auf dem Weg sind nicht heiter. Der Weg führt uns direkt ins Zentrum, was praktisch ist, aber nicht unbedingt heute, denn ich möchte noch unbedingt nach Piesteritz, und das liegt im westlichen Wittenberg direkt an der B187. Piesteritz klingt komisch, Emmi fragt mich, was das wohl bedeutet, ich schlage nach: Es kommt aus dem Slawischen und heißt Rascher Bach, was einem zwar eine Ahnung vermittelt, dass dort auch ein Bach fließen mag, aber nicht wirklich die Bedeutung dieses Ortes näher bringt, denn dann müsste Piesteritz eigentlich vielmehr stickiger Stoff heißen.
Piesteritz war ein kleines Dorf, das um 1870 schlappe 170 Einwohner zählte. Das Leben dort änderte sich gewaltig mit der Industrialisierung. 1898 wurden dort die Gummiwerke errichtet und dann ab 1915, also mitten im Ersten Weltkrieg, die Reichsstickstoffwerke, weil durch die Seeblockade der Engländer der Weg des aus Chile bezogenen Salpeters versperrt wurde. Und diese Werke brauchten Arbeiter und die Arbeiter brauchten Wohnungen, und so wurde eine Werkssiedlung für 2000 Arbeiter gebaut und zwar nach Plänen von Paul Schmitthenner und Otto Rudolf Salvisberg. Besonders an dieser Siedlung ist sicherlich, dass Wert gelegt wurde auf lebenswertes Wohnen, jede Wohnung hat einen Garten, es gibt eine Schule, eine Kirche und wegen der Vielzahl an polnischen und rheinländischen Arbeitern war diese sogar katholisch, ein Rathaus und Einkaufsmöglichkeiten, die gesamte Siedlung war und blieb autofrei bis heute.
Wenn man heute durch diese Siedlung streift, fällt sofort auf, dass dort wirklich kaum Autos zu sehen sind, denn die Anwohner haben ihre Parkplätze am Rande außerhalb des Siedlungsbereiches und dürfen nur zum Be- und Entladen zu ihren Wohnungen fahren. Die Häuser gefallen durch eine schlichte Schönheit, das gesamte Bild wirkt einheitlich, harmonisch aufeinander abgestimmt und bietet doch immer wieder viele kleine individuelle Unterschiede. Piesteritz zeigt mir, wie es gehen kann, für eine große Anzahl Menschen günstige Wohnungen zu bauen und diese nicht in Plattenbauten, Hochhäusern oder anderen Wohnkokons aufzubewahren. Es verwundert also nicht, dass Piesteritz heute eine der begehrtesten Wohngegenden Wittenbergs ist. Umso mehr verwundert es mich aber, dass diese 2000 zur EXPO grundsanierte Siedlung, die bereits 1986 noch in der DDR unter Denkmalschutz gestellt wurde, nicht mehr Nachahmer gefunden hat.
Wenn man sich dort aufhält, fühlt man sich wie in einer kleinen abgeschlossenen Welt und vergisst dabei fast gänzlich, dass sich gleich hinter den Wohnbereichen ein riesiger Chemiepark mit rund 30 Unternehmen, unter anderem auch den Stickstoffwerken erstreckt.
Beeindruckt fahren wir weiter, über die Gleise nur wenige hundert Meter weiter zur Rothemarkstraße, dort soll der Schmetterlingspark sein, in dem es garantiert deutlich wärmer ist als draußen. Fast wären wir dran vorbei gefahren, so unscheinbar liegt das Gebäude in einer gar unwirtlich-schrecklichen Umgebung. In der Tat ist es drinnen wärmer. Das finden auch unsere Kameras und beschlagen aus Ärger über den Klimawandel sofort und mehrmals, dass wir erst nach einer Viertelstunde an Bilder denken können, die etwas anderes zeigen als Nebel.
Und was ist mit den kulinarischen Freuden? Ja, tatsächlich befindet sich in Wittenberg am Markt das Hotel Goldener Adler, in das wir aufgrund des Namens sicher nicht reingegangen wären, wenn unser Reiseführer es nicht empfohlen hätte. Hier sollen ja schon Luther, Goethe und andere berühmte Leute gespeist haben. Außer uns ist nur noch eine Gruppe anderer Gäste da, aber das macht nichts, der Service ist freundlich, die Teller angewärmt, zum Auftakt gibt es Lachsbällchen mit Baguette als Gruß des Hauses, ich nehme Zürcher Geschnetzeltes mit selbst gemachten Spätzle und einen großen grünen Salat und Emmi in Butter geschwenkte Tagliatelle mit Gemüse, danach noch zwei Espresso und für mich die Dessert-Variationen des Hauses, an denen sich der Koch wirklich verausgabt hat und der locker für 2 Personen gereicht hätte. Zusammen mit den Getränken haben wir ein köstliches Mahl für günstige 36 Euro, das uns für die sonstigen gastronomischen Greuel der Umgebung am Ende doch noch entschädigt.
Und wenn wir nicht wieder nachhause müssten, wären wir garantiert auch noch in das großartige Clack-Theater gegangen, das sich gänzlich ohne öffentliche Förderung am Leben hält.