Natürlich kennen wir als gebürtige Hamburger Wilhelmsburg. Das ist an der Elbe, da wohnten Hafenarbeiter, heute nur noch Ausländer und Leute, die wenig Geld haben. Und Wilhelmsburg ist ein sozialer Brennpunkt. Ich kannte nur die Sporthalle in der Dratelnstraße, weil ich da ab und zu ein Handballspiel hatte. Der Weg vom Bahnhof dahin war häßlich, merkwürdig. Und die Schiedsrichter in der Halle pfiffen immer gegen uns, weil wir ja von nördlich der Elbe kamen. In letzter Zeit wurde viel über Wilhelmsburg berichtet, 2013 findet dort die Internationale Gartenschau statt. Und die Internationale Bauausstellung (IBA), gleichzeitig ein Großprojekt ähnlich wie die Hafencity, Dadurch soll Wilhelmsburg endlich an die Hamburger Mitte angebunden werden. Viele werfen dem Projekt Gentrifizierung vor, andere freuen sich darüber, dass endlich was passiert. Wir werden das hier nicht erörtern, viel zu kompliziert und vielfältig ist dieser Stadtteil, der durch den Kinofilm Soul Kitchen 2009 neue Berühmtheit erreichte, der zerschnitten ist von Elbe, Autobahnen, Bundesstraßen und der Eisenbahn. Was steht im Touristenführer ganz oben? Wilhelmsburg ist Europas größte bewohnte Flussinsel und weniger als 10 Minuten vom Hamburger Hauptbahnhof entfernt. Alles das reicht vollkommen aus, um uns endlich mal auf den Weg zu machen, Wilhelmsburg mit eigenen Augen zu erkunden.
Unser Ziel ist das Reiherstiegviertel. Davon hatte Emmi gelesen. Ob wir nun Bahnhof Veddel oder Wilhelmsburg aussteigen, ist egal, von beiden Stationen ist es gleich weit zu Fuß.Wir steigen Veddel aus, es ist herrliches Wetter und an der Elbe längs zu gehen, um Hamburg mal von der anderen Seite zu sehen, erscheint uns lohnenswert. Gut 20 Minuten geht man zu Fuß, immer auf dem Deich entlang, auf dem Fußgänger, Radfahrer und Skater dem autofreien Asphalt fröhnen. Links die backsteinerne Wohnbebauung und die verkehrsreiche Harburger Straße, rechts die Elbe mit dem Blick auf Güterzüge und die Hamburger Skyline mit Kränen. Kirchtürmen und der Elbwirrwarrmonie. Am Wasser liegen Hausboote, in kräftigen Farben bemalt, zugänglich durch Stege, die durch eiserne Pforten und Nato-Draht gesichert sind. Wohnzimmer auf dem Wasser, und selbst die Wäsche hängt auf dem Vordeck. Alternative Elbromantik. Wir spinnen unsere Fantasien ohne sie direkt in Worte zu fassen.
Eigentlich möchte man gar nicht wirklich die Szenerie wechseln, sondern immer weiter gehen, aber wir wollen ja nach Wilhelmsburg rein, in das Herz des Stadtviertels blicken. Wir fragen einen Biker, der alleine auf einer Deich-Designertreppe sitzt und ein Bier trinkt (wahrscheinlich Astra), wo es zum Reiherstiegviertel geht. Designertreppe deshalb, weil die Stufen so niedrig sind, dass man sie nur in Minischritten gehen kann, aber zu breit, um zwei Stufen auf einmal zu nehmen. Weil wir ihm nicht recht glauben, dass es diese monotone Straße geradeaus gehen soll, fragen wir zur Sicherheit an einer Ampel ein dezent punkig-angehauchtes Pärchen, dass uns ganz nett erklärt, wie wir am besten gehen können und uns dabei sofort duzt, was uns das Gefühl gibt, schon ein wenig dazuzugehören. An einem alleeumsäumten Kanal führt uns der Weg zu neu gebauten schicken Siedlungshäusern mit Balkonen und kleinen Gärten, schick, weiß, ein wenig bauhausmäßig, aber auch schon an einer Ecke mit Grafitti besprüht.
Schon die nächste größere Straße, der Vogelhüttendeich, zeigt uns das Typische dieser Gegend, eine lebendige Straßenkultur mit alten Gründerzeithäusern, Neubauten, türkischen Läden, deutschen Kneipen und vielen Leuten auf der Straße, gerade heute, wo die Sonne scheint.
Ein netter älterer Herr erklärt uns den Weg zur Veringstraße, der Hauptstraße durch das Viertel nicht ohne uns einen kurzen geschichtlichen und politischen Abriss der Gegend zu geben. In der Tat sind es kaum 300 Meter bis zum Stübenplatz mit einer wellenförmigen Dachkonstruktion über dem Marktplatz, aus dem die Veringstraße entspringt. Schon gleich trubelt es und am Anfang sind alleine schon drei Restaurants mit Draußensitz-Gelegenheiten auf dem Fußweg. Es ist ein wenig wie Ottensen, denken wir Nordelbier, aber fremder, südlicher, noch türkischer, Multikulti weniger als Monokulti, Migrationshintergrund wird hier zum Migrationsvordergrund. Aber zwischendurch gibt es auch eine portugiesiche Tapas-Bar und das erste Lokal an der Straße, das mittenmang, ist fast schon deutsch mit einer leicht französischen Anmutung. Hier werden wir später noch eine Kleinigkeit essen und dazu einen Grünen Veltliner in der Sonne schlürfen. Aber dazwischen liegt unser Marsch die Veringstraße herunter, interessante, spannende Siedlungsarchitekturen aus den 20er Jahren, türkische Kiosks, Kebab-Läden, Handy-Shops, Elektroläden mit Ohmschem Krimskrams, Friseure ohne Schere im Kopf, Eiscafe San Remo ohne Italiener, nur das monumentale Postgebäude sieht irgendwie Deutsch aus. Wenig später eine kulturübergreifende Seniorenwohanlage im Oriental-Look und angegliedertem Hamam-Palace. Auf der anderen Seite ein beeindruckender Hof der Mannesallee mit Häusern aus dem Jahr 1925. Menschen gehen hier zu Fuß oder werden von der hier beherrschenden Metrobuslinie 13 in das Viertel oder wieder heraus gebracht.
Zwei türkische Männer sprechen mich an, ich soll doch nicht das graue, schmutzige Haus forografieren, das wird doch noch schön gemacht. Emmi sagt, wir knipsen auch schmutzige Sachen, aber ich belasse es bei diesem einen Bild von dem Haus mit dem Schild Eisen-Jens vorne drauf, Die beiden sind stolz auf ihr Viertel, und es ist schön zu sehen, dass sie es sind,
Der ältere Herr von vorhin hat uns erzählt, dass es dort noch einen Bunker gibt mit Cafe und herrlichem Rundblick über das neue Wilhelmsburg. Aber uns erwartet dort eine Menschenschlange an der Kasse und wir müssten mindestens 10 Minuten warten, um eingelassen zu werden, Emmi braucht schneller etwas zu trinken und daher beschränken wir uns darauf, die Schaulustigen von unten zu fotografieren und denken uns in sie herein, um den Ausblick zu genießen.
Wir machen noch einen kurzen Abstecher zum Veringkanal und spazieren dann zurück die Straße entlang zum Anfang, um dann im mittenmang den schon angedeuteten Wein zu trinken. Am Stübenplatz schauen wir uns als letztes noch das Alte Deichhaus an, das die Arbeitsloseninitiative und die Wilhelmsburger Tafel beherbergt, bevor wir mit der 13, dem Bus, wieder Richtung Veddel entschwinden, mit der S-Bahn die Elbe überqueren, durch die City Süd zum Hauptbahnhof fahren, um dort umzusteigen in den Regionalzug, der uns wieder zurück bringt in das ziemlich deutsche, beschauliche Oldesloe, kaum zu glauben, nur 45 Minuten entfernt.